AUTOR: Lemonie
Fremde Tränen
Ruhig und dunkel umgab der Wald bedingungslos alles, das sich seinem grünen Atem anvertraute.
Sein Herzschlag ging gleichmäßig, ja sogar ein bisschen schleppend. Die Zeit verlief hier anders. Tröpfelnd.
Das Mädchen ging langsam den schmalen Pfad entlang und sang ein wunderschönes aber trauriges Lied. Die Melodie hallte durch den Wald und erfüllte das grüne Zwielicht mit einer seltsamen Melancholie.
Die langen, blonden Haare des Mädchens fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern, in ihren grünen Augen lag ein trauriger Ausdruck. Ihre Stimme war hell und klar, aber sie schien aus weiter Ferne zu kommen.
Nach einer Weile war das Lied zu Ende, und sie schwieg. Aber sie hielt nicht inne, sondern lief immer weiter, bis es zwischen den Bäumen heller wurden und der kleine Pfad zu einem breiten Weg wurde. Dann tauchten die ersten Häuser auf und der Wind trug einen feinen Duft mit sich, wahrscheinlich aus einem Gasthaus.
Das Mädchen ging langsam durch das Dorf und sah sich um. Manchmal kamen ihr Menschen entgegen, sie warfen ihr kurze Blicke zu, kurze, verschlossene Blicke.
Und langsam begann sie ihr Inneres zu verschließen, so wie sie es taten.
Plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Ein leises Schluchzen drang aus einem der Häuser, die Tür stand offen und über dem Eingang hing ein Holzschild, auf dem die verblassten Überbleibsel von Buchstaben zu erkennen waren. Ein Tierfänger, der hier seine Beute verkaufte.
Zögernd betrat das Mädchen den Laden. An den Wänden und an der Decke hingen Felle und Federn, hinter der Theke stand ein unsympathisch aussehender Mann und unterhielt sich mit einem Kunden.
Das Mädchen ignorierte er.
Ihre Schritte wandten sich automatisch in die Richtung, aus der das Schluchzen gekommen war. In der Ecke des Raumes, fast im Dunkeln, stand ein Käfig. In seinem Inneren befand sich ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es erinnerte an einen Drachen, so wie sie in Büchern zu finden waren. Aber irgendwie sah es doch anders aus...
Die Augen des Mädchens suchten die des Wesens und fanden zwei große tiefblaue Perlen, die sich langsam mit Tränen füllten. Das Tier litt daruner, eingesperrt zu sein.
Das Mädchen hätte gerne irgendetwas zu ihm gesagt, aber sie wusste nicht, ob es sie verstanden hätte. Aber sie fühlte sich schlecht, weil sie hier draußen stand, und das Wesen im Käfig, und sie nichts tun konnte.
Hilflos sah sie ihm zu, wie es stumm vor sich hinweinte, und fühlte, dass sie selbst kurz davor war, zu heulen. Eine einzelne Träne löste sich aus ihren grünen Augen und rollte über ihr Gesicht.
Plötzlich packte eine grobe Hand ihre Schulter und zerrte sie aus der Ecke.
"Wenn du nichts kaufen willst, verschwinde!", blaffte der Ladenbesitzer sie an und stieß sie in Richtung Tür.
Dann stand sie wieder auf der Straße. Leise hörte sie wieder das Schluchzen des Wesens im Käfig. Anscheinend wurde es von allen ignoriert, sie war die Einzige, die es hörte.
Entschlossen drehte sie sich um und ging weiter. Überrascht stellte sie fest, dass sie weinte. Tränen flossen sanft über ihr Gesicht, schwebten schon fast nach unten. Es waren nicht ihre Tränen, nicht ihre Traurigkeit. Aber sie war froh darüber, wenigstens die Trauer mit dem Wesen teilen zu können, weil sie sonst nichts für es tun konnte. Sie wusste, dass es dadurch nicht wieder glücklich werden konnte, aber immerhin würde sie ihm helfen.
Es waren fremde Tränen, die auf ihrem Handrücken schimmerten, als sie sich über die Augen wischte. Und trotzdem fühlte es sich richtig an, dass sie weinte. Wie eine unsichtbare Verbindung zwischen ihr und dem Wesen. Sie durfte ihre Gefühle nicht verschließen. Sonst würde die Verbindung reißen, wie bei all den anderen Menschen. Und sie würde nie wieder für andere Tränen weinen. Fremde Tränen.