Kim drehte den Zündschlüssel herum. Die wütenden Gitarrenklänge, die eben noch aus den Boxen des Autoradios geschrien hatten, erstarben. Er stieg aus der schwarzen Corvette und knallte die Wagentür ins Schloss. Schlurfend begab er sich zum Schalter für das Garagentor. So sehr er auch dagegen ankämpfte, er konnte das bohrende Angstgefühl in sich nicht besiegen.
‚Beweg deinen Arsch sofort wieder ins Auto und fahr zu ihr!’, brüllte es in seinem Geist, mit einer Schärfe, die einem Armee-General alle Ehre gemacht hätte.
„Du bist albern“, schallt er sich selbst laut. „Ich versuche ausnahmsweise Mal auf meinen gesunden Menschenverstand zu hören“, rechtfertigte er sich vor dem General und begab sich bestimmten Schrittes durch die Verbindungstür in das dunkle Wohnzimmer.
Kaum durch die Tür befiel ihn ein Zustand der Erschöpfung. Er fühlte sich wie erschlagen.
„Heute werde ich wohl nicht mehr hinter der Bar stehen können.“
Gähnend ging er in die Küche. Sein Magen knurrte vernehmlich. Eine Weile stöberte er im Schrank, die warnende Stimme in sich noch immer geflissentlich ignorierend.
‚Geh zu Joanna, du hirnverbrannter Vollidiot. Jede Sekunde zählt.’
Die Schachtel Cornflakes, die er gerade aus dem Schrank nahm, rutschte ihm beinahe aus den Fingern. Ärger stieg in ihm auf. Ärger auf Joanna, dass sie seine Sorgen für vorgetäuscht gehalten hatte. Auch wenn sie vielleicht unbegründet waren...
‚Vielleicht? Ganz sicher!’
... ganz sicher unbegründet waren, so war es doch echte Sorge, die ihn auch jetzt noch quälte wie ein mittelalterlicher Folterknecht. Er griff nach der Milchtüte. Sie entglitt seinen Fingern. Mit einem lauten Platschen prallte sie auf dem schwarz-gelb gefliesten Küchenboden auf.
„Ich muss zu ihr“, sagte er laut in den Raum. „Auch wenn sie zu Neunundneunzig Prozent schlafend in ihrem Bett liegt. Ich halte das nicht mehr aus.“
Joshua stand neben Damian. An die Regalwand hinter der Bar gelehnt, nutzte er eine ruhige Minute, um eine Zigarette zu rauchen. Durch halbgeschlossene Lider beobachtete er seinen Freund. Ein besorgter Ausdruck lag um seinen Mund. Damian sah schlecht aus.
„Mein Tipp bezüglich der Kleinen war wohl nicht so ganz das Wahre“, vermutete er.
Dams Gesicht wirkte verschlossen und die Behandlung, die er den Gästen zukommen ließ, lief knapp an der Unhöflichkeit vorbei.
Joshua spürte die Anspannung, die von Damian ausging, beinahe schon körperlich. Sein Blick glitt prüfend über dessen schlanken, gutgebauten Körper. Auch dieser ließ deutliche Zeichen, die von starken, unterdrückten Emotionen sprachen, erkennen. Damians Bewegungen hatten etwas Gezwungenes und übermäßig Vorsichtiges, als müsse er jeden Handgriff überlegen und aufpassen durch seine neuen Kräfte nicht etwas kaputt zu machen. Joshua trat zu Damian und legte ihm eine Hand auf den Arm. Der fuhr zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Ein Glas mit Fanta, das er in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden und zersprang dort klirrend.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Damian.
Er ging in die Hocke um die Scherben aufzusammeln. „Was willst du?“ fuhr er Joshua an, doch würdigte er ihn keines Blickes.
„Wir müssen reden“, stellte Joshua bestimmt fest.
„Du willst reden?“ Damian schnaubte verächtlich. „Mal etwas ganz neues. Aber jetzt will ich nicht.“
Damian warf die Scherben in den Papierkorb unter der Theke. An seiner schlanken blassen Rechten blutete ein feiner Schnitt. Er drehte den Wasserhahn an der kleinen Spüle auf und hielt seine Hand darunter. Das kalte Wasser spülte das Blut hinfort. Der Schnitt war schon spurlos verheilt. Scheinbar gleichmütig betrachtete er seine Handfläche, doch Joshua sah das kindliche Staunen in seinen Augen aufleuchten. Seinen fluoreszierend leuchtenden, wunderschönen dunkelblauen Augen.
„Wir werden reden. Morgen Abend.“
Joshuas Tonfall besagte deutlich, dass er keine Widerrede dulden würde. Eindringlich sah er Damian an. Dieser hob den Blick zu seinem Freund und Lehrer und fletschte kurz die Zähne. Eiskalt bohrten sich seine Augen in Joshuas. Es offenbarte sich der Jäger der Nacht. Dann wandte er sich ab und griff nach der Fantaflasche.
Damian war wütend. Er war erzürnt über sich selbst und über Joshua. So sehr er sich auch vorgenommen hatte, menschlichen Wesen, die er nicht kannte und die ihm folglich auch nichts bedeuteten, gleichgültig gegenüber zu stehen – es gelang ihm einfach nicht wirklich.
‚Gott, ich hätte das Mädchen beinahe getötet. Ich konnte mich kaum zurückhalten. Ich hätte sie ausgesaugt, bis auf den letzten Tropfen. Dann hätten wir eine Leiche hier im MIDNIGHT gehabt!’ dachte er und unterdrückte den Drang Joshua zu packen, um ihm ins Gesicht zu schreien: „Und du hast mir diesen Scheiß-Rat gegeben. Fuck! Du hast gesagt, es könne nichts passieren. Du stellst alles so leicht hin, so problemlos. Du sagst, ich dürfe nicht zulassen, dass mich das Leid über den Tod der Sterblichen überwältigt...“
Doch das Schlimme für Damian war, dass er eigentlich nicht daran litt, dass das Mädchen beinahe gestorben wäre, sondern dass es ihn mehr aufregte, wo sie fast den Tod gefunden hätte. Etwas in ihm störte sich daran, dass es ihm gelang sich von alten Moralvorstellungen so schnell zu verabschieden. Er vermutete, dass Joshua hier seine Finger im Spiel hatte, wusste er doch um die Fähigkeit der Hypnose, die ihnen gegeben war. Und wirklich, Joshua hatte auch hier damals nachgeholfen, als er Damian sein Blut zu trinken gab. Aber nur ein wenig, denn die Gefahr einen kalten Killer zu erschaffen, war zu groß.
‚Ganz recht’, dachte Joshua, der sich nicht zurückhalten konnte Damians gedanklichen Monolog mitzuverfolgen, vergaß dieser doch stetig die Tür zu schließen, nicht ahnend, dass er es diesmal selbst vergaß. ‚Freiwillig würde er mir das ja im Moment kaum anvertrauen’, rechtfertigte er sich vor sich selbst.
Auch das ärgerte Damian. Hielt Joshua ihn nicht für fähig mit sich selbst ins Reine zu kommen? Den Anflug von Dankbarkeit, dafür, dass Joshua ihm zusätzliches Leid ersparen wollte, unterdrückte er schnell. Er knallte das Glas mit dem Fanta-Orange auf den Tresen.
„Drei Mark Fünfzig“, sagte er knapp.
„Okay, okay.“
Perplex starrte Daniel Damian an. Damian zuckte zusammen als er die Stimme erkannte.
„Oh, sorry. Tut mir Leid.“ Verlegen zog Damian die Schultern ein und versuchte ein schwaches Lächeln.
„Schon gut. Was fehlt dir denn?“, erkundigte sich Daniel.
Damian schüttelte nur stumm den Kopf.
‚Antworten’, dachte er. ‚Antworten auf Fragen, die ich selbst nicht kenne.’
Manchmal erschien ihm alles so klar. Die Antworten schienen zum Greifen nahe und dann brach alles wieder in einem verwirrenden Gefühls- und Gedankenchaos zusammen. Er seufzte. Nicht nur seine Sinne und Instinkte hatten sich durch sein neues Dasein verstärkt. Auch sein emotionales Empfinden war stärker geworden. Er nahm die Bestellung eines anderen Gastes auf und drehte sich herum, um eine Flasche Warsteiner aus dem Kühlschrank zu nehmen. Dabei prallte er direkt gegen Joshua. Er sah auf und blickte in zwei besorgte schwarze Augen.
„Pass doch auf“, murmelte er.
‚Doch, es gibt zwei Fragen, die kenne ich. Warum bringt er meine Gefühle so in Wallung? Warum stürzt er meine Gedanken in so ein Chaos?’ Auch dies schürte seine Wut. Er fluchte. Beinahe wäre ihm auch die Bierflasche durch die Finger geglitten. Er wich zurück.
‚Reiß dich gefälligst zusammen’, schimpfte er mit sich selbst in Gedanken.
Joshua fing seinen Blick. Damian konnte ihm nicht entwischen. Wie gebannt starrte er den älteren Vampir an. Er stöhnte leise auf. Ein Lächeln lag um Joshuas schönen Mund. Ein Bild stieg vor Damians geistigen Auge auf. Wie es wohl wäre...? Nein. Er wollte diesen Gedanken nicht zuende denken.
Der Eindringling schaltete den Fernseher aus.
„Tja, du kannst dir sicherlich denken, dass ich nicht nur hier bin um einen amüsanten TV-Abend mit dir zu verbringen, oder?“, sagte er mit der Stimme eines Lehrers, der hofft, dass wenigstens ein Schüler verstanden hat, wie man die Ableitung einer e-Funktion durchführt.
„Was...?“, schluchzte Joanna. ‚Jetzt wird es ernst Mädchen’, schien eine Stimme in ihrem Kopf zu sagen. Eine Stimme, die sehr viel mutiger klang, als sie sich fühlte.
„Erzähl mir von Damian Krieger.“
Er klang freundlich, doch in seinen Augen stand der Befehl, nicht die Bitte. Joanna war verwirrt.
„Damian? Wieso Damian? Was wollen Sie von Damian?“, brachte sie heiser hervor. Zur Panik in ihrem Blick gesellte sich nun auch die Sorge um den Freund.
‚Oh, Dam in was hast du dich da hineingeritten?’ dachte sie.
„Ach, sagen wir: Damian und ich sind Bekannte. Und jetzt beantworte meine Frage!“
Drohend funkelte er sie an. Um seine Lippen spielte ein bösartiges Lächeln. Er weidete sich an ihrer Angst. Er genoss es zu beobachten wie sich ihre Brüste unter den heftigen Atemzügen hoben und senkten, wie sie versuchte mit bebenden Lippen Worte zu finden, die verbargen, dass sie ihm kaum etwas über Damian Krieger verraten wollte. Es erregte ihn ihren Körper von Schauern der Angst geschüttelt zu sehen. Er lauschte ihrem tobenden Herzschlag, genoss dies ebenso sehr wie die süßen Klänge der „Kleinen Nachtmusik“, seinem Lieblingsstück. Er roch ihren Angstschweiß und fand diesen Geruch betörender als jegliches Parfum. Er schien beinahe schon ihr süßes Leben zu schmecken. Mit der Zunge netzte er seine plötzlich trockenen Lippen und beugte sich nahe an ihr Gesicht. Joannas fliehender Atem streifte sein Gesicht.
„Sprich, dann wirst du leben“, log er mit heiserer Stimme.
Er spürte wie sie bei diesen Worten zusammen zuckte. Die starre Maske, die das Gesicht des jungen Mädchens die ganze Zeit entstellt hatte, zerfiel und er konnte sehen, wie die panische Todesangst gegen die sie die ganze Zeit so tapfer angekämpft hatte, über sie hereinbrach wie eine Sturmflut. Schluchzend sank sie in sich zusammen.
‚Sprich, dann wirst du leben’, hallten die Worte in ihrem Geiste nach und dann sprudelte alles aus ihr hervor.
‚Dam, es tut mir Leid, so Leid. Ich weiß, dass ich dich damit in Gefahr bringe, aber ich bin keine Heldin. Verstehst du?’, flehte sie in Gedanken um Vergebung.
François seufzte, denn was Joanna ihm erzählte, waren nicht gerade die Informationen, die er sich erhoffte. Es war eher eine Ode an einen Jugendhelden, und doch ließen sich einige, möglicherweise nützliche Informationen ableiten. Er wusste nun, wollte er Damian am härtesten treffen, musste er sich derer bedienen, die Damian liebte. Seiner Freunde. Seine Rache wäre nicht halb so vollkommen, würde er Damian Krieger direkt angreifen. Er musste ihn erst leiden lassen. Abgrundtiefe Pein für Damian Krieger. François grinste und blickte zu Joanna.
‚Dieses war der zweite Streich und der dritte folgt sogleich’, dachte er.
Joanna saß zusammengesunken auf der Couch. Der Eindringling stand vor ihr und blickte fröhlich auf sie hinab. Stumm, doch mit tränenverschmiertem Gesicht blickte sie schließlich zu ihm auf, als hätte sie einen stummen Befehl erhalten. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht und wischte mit den Daumen in beinahe schon fürsorglicher Weise ihre Tränen weg.
„Ich möchte dir danken, mein Herz. Zwar weiß ich noch nicht, inwiefern mir deine Auskünfte von Nutzen sein werden, doch kann man nie genug von seinem Feind wissen, nicht wahr? Schließlich weiß man nie, bei welcher Gelegenheit man sein Wissen anwenden kann.“ Er streichelte sanft ihre Wange. „Erhebe dich“, befahl er dann rau.
Der Ausdruck in seinen Augen hatte sich schlagartig geändert. Die spöttische Fröhlichkeit darin war purem Begehren gewichen. Mechanisch erhob sie sich. Sie würde sich nicht gegen ihn wehren. Ihr Widerstand war gebrochen. Joanna hatte sich ihrem Schicksal ergeben. Sein Blick glitt über ihre Gestalt. Es hatte ihm Spaß gemacht sie zu brechen. Sich an ihrer Angst zu weiden. Sie zu beobachten, während sie sich ausmalte, was ihr alles blühen könnte. Zu sehen, wie sich ihre Gedanken, ihre zerplatzten Hoffnungen, die Panik, das Leid in ihren wunderschönen Augen spiegelte und dabei den Paukenschlägen ihres, von der Angst getriebenen, Herzschlages zu lauschen. All dies hatte ihn bis zur Unerträglichkeit erregt. Jetzt wollte er sie. Bis auf den letzten Tropfen ihres heißen, süßen, jungen Lebens, der durch ihre Adern strömte, wollte er sie aussaugen. Doch noch zögerte er es hinaus, begnügte sich damit sie zu betrachten.
‚Michelle war genauso jung’, schoss es ihm durch den Kopf.
Wut erwachte in ihm, vermengte sich mit seinem Begehren. Fauchend riss er sie an sich. Seine Finger gruben sich in ihren Rücken, als er sie an sich presste. Sein Mund suchte ihren Puls. Entfernt hörte er sie leise wimmern. Das heizte seine Lust noch an. Aufstöhnend senkte er seine Zähne in ihr weiches Fleisch, als seine Zunge das heftige Pulsieren ihrer Halsschlagader ertastete. Gierig nahm er das Blut, das über seine Zunge sprudelte auf und saugte fordernd an den Wunden um dessen Fluss zu beschleunigen. Joanna wehrte sich nicht. Sie hatte die Gnade der Bewusstlosigkeit erhalten. François bemerkte dies nicht, er war in seinem karmesinroten Rausch gefangen. Erst als ihr Herzschlag in seinen Ohren zu ersterben begann, riss er sich von ihr los.
„Danke für die schöne Nacht“, flüsterte er leise und küsste ihre warmen Lippen, aus denen gerade der letzte Atemzug entwichen war.
Er hob sie auf seine Arme und bettete das tote Mädchen auf die Couch. Noch einmal beugte er sich über sie und ergriff ihre schlanke Hand. Kurzentschlossen nahm er den Ring an sich, der an ihrem Mittelfinger steckte. Dann schlüpfte er in seine Jacke und machte sich auf den Weg in die Küche, wo ein weit geöffnetes Fenster sich als wunderbarer Einstieg erwiesen hatte, und nun auch als Ausstieg dienen würde.
Diesen kurzen Auszug gibt es auch als Lesungsvideo zum Download unter: http://www.midnight-fairytales.de/Lesung/lesung_ea1_low.mp4
Die Anmoderation ist leider etwas leise, doch der Rest des Videos hat eine gute Tonqualität.