Ein Leben ohne Träume
Traurig starrte ich hinaus in den Regen. Es waren Herbstferien und ich war mal wieder die Einzige, die nicht in den Urlaub gefahren war.
Es war alles wie jede Ferien. Alle waren weg, nur ich nicht. Dabei wollte ich so viel von der Welt sehen! Ich wollte die Waisenkinder in Afrika besuchen, die Wasserfälle in Kanada anschauen, Greenpeace in Japan unterstützen und noch so viel mehr.
Es konnte jedoch alles nur ein Traum bleiben.
Meine Eltern, meine beiden Brüder und ich leben von dem Arbeitslosengeld, was nicht wirklich viel war. In einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung am Rand der Stadt wohnten wir.
Mein Vater bemühte sich kein bisschen, die Situation unsere Familie zu bessern. Ganz im Gegenteil dazu versuchte meine Mutter unser Leben mit kleinen Nebenjobs zu verbessern. Was sie dabei aber komplett vergaß, waren der Haushalt und meine jüngeren Brüder. Diese Aufgaben blieben an mir hängen.
Jeden Tag musste ich meine Brüder Noah und Jan zur Schule bringen, sie wieder abholen, Essen kochen und sie am Abend ins Bett bringen. Die Hoffnungen auf bessere Umstände hatte ich schon längst aufgegeben. Es würde sich nie etwas in meinem verdammten Leben ändern!
Und so saß ich auch diese Ferien wieder zu Hause fest.
Es war Sonntag ein verregneter Sonntag, als es passierte.
Meine Mutter hatte Urlaub und kümmerte sich um den Haushalt und meine Geschwister. Ich hatte also endlich auch mal Zeit für mich.
Doch was sollte ich damit anfangen? Es war sowieso keiner meiner Freunde da. Irgendwann entschloss ich mich dazu, durch die verlassenen Straßen der Stadt zu schlendern.
Mit einem Regenschirm bewaffnet machte ich mich auf den Weg.
Die sonst so belebten Straßen waren wie ausgestorben. Niemand ging bei diesem Wetter freiwillig nach draußen.
Ich schaute mir die Schaufenster der Geschäfte an und träumte davon genug Geld zu haben, um mir alles kaufen zu können, was ich mir beliebte.
„Entschuldigung“, hörte ich eine leise Stimme direkt neben mir.
Widerwillig drehte ich mich um. „Was ist lost?“
Vor mir stand ein Junge. Er war pitschnass, da er keinen Regenschirm dabei zu haben schien. Seine blonden Haare klebten an seinem Kopf und seine grünen Augen blickten mich fragend und hilfesuchend an.
„Könnte ich mich vielleicht kurz bei dir unterstellen?“
Ich blickte mich um. Warum fragte er mich? Es gab so viele Möglichkeiten vor dem regen zu flüchten.
Nach kurzem Zögern nickte ich. Ich wollte ihn auch nicht einfach allein im Regen stehen lassen. Obwohl es egal gewesen wäre. Nass war er sowieso.
Schweigend standen wir nun unter meinem Regenschirm und warfen und immer wieder unsichere Blicke zu.
„Was machst du eigentlich bei diesem Wetter in der Stadt? Und dann auch noch ohne Schirm!“
„Das gleiche könnte ich dich auch fragen.“ Ein Grinsen huschte über seine Lippen.
Verlegen schaute ich auf den Boden. Ja, warum war ich eigentlich hier? Nur um mir die Schaufenster anzuschauen? Ich wusste es nicht genau. Vielleicht hatte ich es auch einfach nicht mehr zu Hause ausgehalten.
„Ich bin übrigens Fred.“
Ich rang mir ein Lächeln ab. „Ich heiße Sophie.“
Mit meinen Gedanken war ich ganz wo anders. Es fiel mir schwer, mich auf die Situation zu konzentrieren, in der ich mich gerade befand.
Es hatte sich ein kleiner, aber hartnäckiger Gedanken in meinem Kopf eingenistet. Er wollte einfach nicht verschwinden.
„Wie alt bist du?“ Die Frage klang dumpf und leise in meinem Kopf wieder.
Fred schien krampfhaft ein Gespräch zu entwickeln, doch ich konnte einfach nicht richtig zu hören.
Was hatte ich mit meinem Besuch in der Stadt bewirken wollen? Wollte ich noch tiefer in meinem Selbstmitleid versinken, indem ich mir Klamotten ansah, die ich mir nicht leisten konnte?
Abwesend beantwortete ich Freds Fragen, stellte ihm jedoch nie welche zurück. Er musste sich ziemlich dämlich vorkommen.
Er erzählte mir dies und jenes aus seinem Leben, dabei kannte er mich gar nicht.
Ich hingegen hatte mich in meine Gedanken zurückgezogen und grübelte über Sachen nach, die ich sonst für unwichtig gehalten hatte.
Die Frage, was ich in der Stadt bei diesem Wetter machte, hatte etwas in mir wachgerüttelt.
All meine Träume und Wünsche waren zum Vorschein gekommen. Dabei hatte ich sie so gut verdrängt. Ich hatte mich mit meinem jetzigen Leben abgefunden.
Ein Schwall von Erinnerungen und Gefühlen überwältigte mich und trieb mir Tränen in die Augen.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte plötzlich Fred neben mir. Da merkte ich, dass mir die Tränen wie Wasserfälle die Wangen herunterließen. Wie die Wasserfälle, zu denen ich früher immer so gern hinwollte. Diesen Wunsch hatte ich vergessen, weil er in meinen Augen unerreichbar geworden war.
„Mir ist gerade nur etwa eingefallen, was ich total vergessen hatte.“
„Willst du es mir erzählen?“
Ich schluchzte leise, nickte dann aber.
Durch den Regen ging ich zu einer kleinen Bank und ließ mich darauf nieder. Die Nässe, die durch meine Jeans drang, bemerkte ich gar nicht. Fred setzte sich neben mich und schaute mich erwartungsvoll an.
„Früher hatte ich so viele Träume und Wünsche. Ich wollte verreisen, Kindern in Afrika helfen, Greenpeace unterstützen und noch so viel mehr. Kleine und große Sachen, die meiner Meinung nach die Welt bewegen würden. Doch schon bald wurde mir klar, dass dies alles nie so sein würde. Ich hatte genug um die Ohren und konnte nicht auch noch irgendwelchen Organisationen helfen. Und das Geld dafür fehlte auch.
Du musst wissen, dass meine Eltern arbeitslos sind und ich mich um Haushalt und meine Brüder kümmern muss. Da bleibt nicht viel Zeit für Träume, Wünsche und Freizeit.
Also vergaß ich bald alles, was ich mir vorgenommen hatte und wovon ich träumte.
Aber dann kamst du und hast mich gefragte, was ich bei diesem Wetter in der Stadt machen würde. Ich wusste darauf keine Antwort. Mit dieser Frage wurde etwas in meinem Kopf frei, was so lange verschlossen war.“
Ich beendete meine Erklärung und blickte Fred an. Auch er schaute mich an. Offen und verständnisvoll. Er sagte nichts. Kein Wort.
Ich wollte auch nichts hören. Ich wollte kein Mitleid oder gutes Zureden, dass alles halb so schlimm wäre.
Wir saßen eine Weile stumm auf der nassen Band. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört und die Sonne stach zwischen den grauen Wolken hervor.
Plötzlich erhob ich mich. Ich hatte einen Entschluss gefasst.
„Was machst du jetzt?“
„Ich werde meine Träume verwirklichen. Ich weiß, dass ich es schaffen kann. Es dauert wahrscheinlich lange, aber ich gebe nicht auf.“
Fred erhob sich und lächelte mich an.
„Das wollte ich hören. Du schaffst es, deine Träume zu verwirklichen. Und wenn du einmal daran zweifeln solltest, denke immer daran, wie grau das Leben ohne Träume ist.“
Dankend lächelte ich Fred an und verschwand in Richtung zu Hause.
Auch Fred ging weg. Er lief in entgegen gesetzter Richtung.
Fest entschlossen kam ich zu Hause an. Die Wolken waren mittlerweile verschwunden und die Sonne strahlte voller Freude hinab auf die Stadt.
Ich fing an meine Träume in meinem kleinen Zimmer zu verwirklichen. Ich räumte auf, stellte meine wenigen Möbel so um, dass alles gemütlich aussah, kaufte von meinem mühsam ersparten Geld am Montag Farben und strich mein Zimmer neu.
Fred hatte ich in meinem ganzen Leben nie wieder getroffen. Dabei wollte ich mich doch so gern noch bei ihm bedanken.
Ich erfüllte mir nach und nach den einen oder anderen Wunsch und kam meinem größten Traum immer näher.
Und das nur, weil ich mein Ziel nie aus den Augen verlor.
Vielleicht muss man erst seine Träume vergessen, damit einem klar wird, wie grau das Leben ohne sie sein kann.
Dikussionsthread von Marie